Design And Performance Lab

 


Tanz Anders Wo

Tanzquartier Wien, November 2003

 

Johannes Birringer

(c) 2003

Das jährliche Treffen der Gesellschaft für Tanzforschung (GTF) fand diesmal in Wien statt, und dieser Sprung von der letzten grossen Tagung an der Akademie der Künste Berlin vor zwei Jahren in die Kulturmetropole Österreichs versprach Spannung, zumal die Thematik, die die Forscher und Tanzschaffenden zusammenführte, viel offene und versteckte politische Brisanz barg. "Tanz Anders Wo" provozierte bei den Teilnehmern auch Fragen über die gegenwärtige Tanzpraxis im "Hier," gerade was den europäischen Konzepttanz betraf. Willi Dorners neues Stück "(…)," am letzten Abend uraufgeführt, goss noch weiteres Öl in die Flammen. Eine klärende Übereinstimmung über das "Hier" oder das paradoxe Eigene "unserer" westlichen Kultur war kaum zu erwarten, wie auch Johannes Odenthal (Haus der Kulturen der Welt Berlin) mehrfach zu bedenken gab bei seinen Ausführungen über Verknüpfungen und geschichtliche Wechselbeziehungen zwischen Ost und West.

Gastgeber der von Nele Lipp und ihren Mithelferinnen organisierten Tagung war das Tanzquartier Wien, das seit ein paar Jahren im vortrefflichen Museumsquartier ein Heim für die freie Szene geschaffen hat und, wie die Leiterin Sigrid Gareis andeutete, eine sehr offene und differenzierte Programmgestaltung fördert, dabei auch eine Bibliothek, ein Medienlabor, und eine Stelle für Theoriebildung (Krassimira Kruschkova) eingerichtet hat. Der Tanzkritiker und Autor Helmut Ploebst stellte gleich zu Anfang fest, dass er Wien nur sehr schwer "verorten" könne, da seine Lokation und politisch-geographische Rolle, ebenso wie unsere sogenannten abendländischen Sprachen, Künste, Wissenschaften und Denkweisen, im europäischen (christlich-judäischen) wie auch im nichteuropäischen (byzantinischen, arabisch-islamischen) Kontext sich fortschreitend verändert hätten. Veränderung als Vermischung: Ploebst erinnerte an Verschiebungen im intrakulturellen Patchwork, die es kaum zulassen, nicht bereits von beständiger Interkulturalität innerhalb der westlichen Kulturen auszugehen. Zur Debatte standen also diese Verschiebungen und Übertragungen, wie auch die Hinterfragung der Darstellbarkeit des Anderen, die gerade im heutigen Kontext politischer Spannungen und militärischer Auseinandersetzungen von Interesse für alle im Kulturbetrieb Tätigen sein sollte.

19 Vortäge, Plenumsdiskussionen, praktische Workshops, eine Poster Session und ein Filmabend trugen zum Gesamtbild bei: wohl erstmalig im deutschsprachigen Raum gab es ein solches Spektrum an komplexen Analysen der intra-und interkulturellen Differenzen im Tanz, der Möglichkeiten choreographischer Dekolonialisierung, und des Körpers als Schauplatz seiner eigenen Fremdheit. Rolf Elberfeld (Wuppertal) initiierte philosophische Fragestellungen, die sich konkret auf die Sinneswahrnehmungen im Tanz bezogen. Nach langjährigem Studium in Japan interessiert er sich vor allem für die Erschliessung einer komparativen Ästhetik des Bewegungssinns. Sein Vortrag stimmte die Zuhörer auf Shigeto Nuki (Tokyo) ein, der am Beispiel des Butoh nachwies, wie Tatsumi Hijikata im Japan der 60er Jahre mit dem Butoh eine scheinbar radikal andere Bewegungssprache entwickelte, die sich bewusst von Einflüssen des westlichen Ballets wie des Ausdruckstanzes differenzieren wollte, obwohl unterhalb der Schicht des "fiktiven" dargestellen Körpers durchaus Ähnlichkeiten in der Körperkontrolltechnik bestehen. An Hand der Isolierungen und unterschiedlichen Schwerpunktkontrolle und Körperhaltung ging Nuki der Frage der "Übersetzbarkeit von Tanz" nach; abgesehen von Übernahme durch Imitation sowie gegenseitiger Vermischung ("Cyborg Körper"), ergäbe sich im Falle Hijikatas eine besondere Übersetzung, nämlich das Herausnehmen bestimmter Körperkontrollprinzipien aus verschiedenen Ästhetiken, die dann so verschmolzen werden, dass eine "dritte Art" der Körperlichkeit entsteht. Nuki erinnerte auch daran, dass die Erneuerung der Körpertechnik ebenso eine neue Sichtweise beim Zuschauer, und damit den Diskurs über eine fremde oder dritte Ästhetik herausfordert.
Mit einer gewissen Ironie wurde in der anschliessenden Diskussion darauf hingewiesen, dass der Butoh heute in Europa populärer und weitverbreiteter sei als in Japan.

Der Diskurs und die Rezeption der "Fremdheit" standen auch im Mittelpunkt von Claudia Jeschkes (Köln) unterhaltsamen Referat über die "spanische" Tänzerin Lola Montez (Eliza Gilbert, 1821-1861), deren bemerkenswerte Karriere im 19. Jahrhundert vor allem darauf beruhte, wie "Montez" verschiedene, mitunter ungleiche Facetten der Fremdheit und des Andersseins - das Spanische, den Tanz, das Feminine, die Geheimnisse der Schönheit, das faszinierende Ausländische- verwaltete und auf frappierende Weise zur Steigerung ihres Marktwerts inszenierte. Jeschkes performative These lief darauf hinaus, dass Montez bewusst innovative Strategien der Identitätskonstruktion und der Inszenierung von Fremdheit einsetzte, und dabei auch einen gewissen Dilettantismus als entgrenzende tänzerische Qualität, d.h. performatives Vermögen anstatt echter Technik, in Anspruch nahm, wobei die Rezeption (Publizistik und Karikatur) damals die Rolle der Medien und des Kults von heute deutlich ins Blickfeld rückt.

Einen weiteren historischen Ansatz bot Sibylle Dahms (Salzburg) in ihrem kritischen Ausblick auf die Stoffwelt des Exotismus bzw. Orientalismus, der "Turquérie," im Tanztheater des 18. Jahrhunderts, während Helmut Ploebsts wichtigtes Fallbeispiel das vor zwei Jahren uraufgeführte "Total Masala Slammer/Heartbreak No.5" von Michael Laubs Kompanie war. In diesem Stück integriert der Choreograph indische Kathak-Tänzerinnen in einen zeitgenössischen Tanz über die Bollywood-Populärfilmkultur und Goethes leidenden Werther als Soap-Opera, wobei es hier gerade nicht um exotische Ausstellung und ästhetischen Kolonialismus gehe, sondern um eine Form der Inter-medialität, die den (immer schon interkulturellen) Modern Dance wie den Kathak als eigenständige Elemente in einen Handlungskontext nebeneinanderstellt. Im Vergleich etwa zu "La Bayadère," einem "Klassiker des kulturellen Hijackings," bekräftigten Ploebsts Beispiele aus der frühen Avant-garde des 20.Jahrhunderts (Dada, Futurismus, Bauhaus, usw.) seine These, dass es Vorläufer der heutigen "intermedialen" Konstruktionen im Tanz gibt, die auf ein wichtiges Strukturprinzip hinweisen, nämlich der Tendenz im zeitgenössischen Konzepttanz zur Überschreitung seiner eigenen kulturellen und technischen Konventionen, und damit des Tanzspezifischen selbst. Anstelle eines Ausstellens von exotischen Körpern entwickle der heutige Tanz (wobei viele Tanzkompanien ihrerseits bereits interkulturelle Sozialmodelle darstellen) Gegenkonzepte und Diskurse, die die tanzkulturellen Grenzen erweitern und den internationalen Austausch auf der interkulturellen Ebene fördern.

Diesem positiven Ausblick gegenübergestellt liessen die ethnologischen Vorträge ganz bemerkenswerte Einzeluntersuchungen folgen: z.B. Ulrike Nestler (Remscheid) über "Transformationen von Performanz und Inhalten urbaner Tanzformen in Südafrika," Nadine Sieveking (Berlin) über "Das ethnologsche Konzept des Animismus bei zeitgenössischen afrikanischen TänzerInnen in Europa," und Sabine Soergel (Mainz) über "Dancing Cultural Identity: Das Beispiel der National Dance Theatre Company of Jamaica", die wiederum von Rudolf Stichweh (Bielefeld) in einer theoretischen Verortung ("Künstlerische Produktion in der Weltgesellschaft") der Globalisierung und fortschreitenden Ausweitung der differenzierten lokalen Verarbeitung eines global verfügbaren Repertoires reflektiert wurden.

Nestler und Sieveking allerdings sprachen nicht von Überschreitung im Sinne Ploebsts, sondern von einer auf den historischen Folgen von Kolonialismus und Rassendiskriminierung beruhenden "Transformation" spezifischer afrikanischer Tanzformen, die in lokalen afrikanischen Kontexten immer mit besonderen sozio-kulturellen und religiösen Bedeutungen verbunden gewesen sind. Im Falle der politischen Veränderungen in Südafrika seit dem Ende der Apartheid lassen sich Entwicklungen beobachten hin zu einer Auflösung der strikten Trennung zwischen ethnisierten (indischen, afrikanischen, westlichen) Tanzformen verschiedener Bevölkerungsgruppen, die während der Apartheid sowohl politisch-identitätsstiftende Funktion hatten als auch bei den traditionellen und urbanen Formen (z.B. Ingoma, Gumboot, Isicathamiya, Mapantsula, Toyi-Toyi) inhaltlich die Möglichkeit der Rehabilitation der unterdrückten Körper, der Stärkung des individuellen Selbstbewusstseins, boten. Das Installieren neuer Plattformen (Dance Umbrella) in der jetzigen politischen Landschaft fördere die Herausbildung von Fusionen zwischen den Genres, wie z.B. im populären Afro-Fusion, wobei dem Bühnentanz - wenn auch nicht eurozentrischer Prägung - eine vorrangige Bedeutung zukomme, was wiederum zu einer Marginalisierung der urbanen afrikanischen Ausdrucksformen führen dürfte.

Hier wird deutlich, das eine politisch identitätsstiftende und körperlich-spirituell rehabilitierende Eigenschaft des Tanzes vordringlich im Diskurs der Dekolonisierung vorkommt bzw. im Kontext der Kreolisierung (besonders klar von Soergel im Hinblick auf die Karibik und die "getanzte Befreiungspolitik" in Jamaika beleuchtet) , und fast gar nicht im westlichen Kunstverständnis. Jochen Schmidt (Düsseldorf) behauptete zwar, dass die "Tanzkunst das Wandern liebt" und der moderne Tanz der ganzen Welt gehöre und nicht als Kolonialisierung verstanden werden dürfe. Er bezog sich allerdings mehr auf Wechselwirkung, Aneignung und Imitation von Stilen, nicht auf die politische Notwendigkeit einer kulturellen Identität, die sich aus der getanzten Auseinandersetzung mit kultureller Beeinflussung und Macht kristallisiert. In Kontrast zum Lokalen stellte Sieveking das Globale in der "transnationalen Tanztheater-Avantgarde" in den Vordergrund - das Globale als Prozess der Abstrahierung, den einige afrikanische TänzerInnen (Germaine Acogny, Elsa Wolliaston, Koffi Kôkô) bewusst vornähmen, um Verständigung mit dem Publikum und auch den Kollegen in der internationalen Tanzszene zu erleichtern, ohne dass sie deshalb den Bezug zu afrikanischen Herkunftskulturen und rhythmischen wie semantischen Symboliken verlieren würden. Sieveking argumentierte vielmehr, dass diese TänzerInnen den Animismus - dessen Konzept und tanztechnische Bedeutung Koffi Kôkô als ein "Horchen auf die Natur" umschriebe - als Referenzsystem für rituelle Grundlagen und Energien strategisch einsetzen bei ihrer Übersetzung oder Neuerfindung des postkolonialen afrikanischen Tanzes. Man müsse sich von der Irritation, die der Begriff Animismus auslösen mag, befreien und ihn so verstehen, dass Koffi Kôkô damit einen Rückgriff auf körperpraktisches Wissen meine. Eine Geschichte, die im kolonialen Kontext der oralen Kulturen Afrikas gar nicht niedergeschrieben worden ist, wird als praktisches Wissen einer Bewegungssprache aufgegriffen und transformiert, d.h. es wird keine Authentizität vorgespiegelt, sondern eine Ressource effektvoll eingesetzt, um sich "in andere Ebenen hineinzutanzen."

Auf der Ebene der europäischen Festivalproduktion und Veranstaltungsprogrammierung stellt sich nun aber die Frage, nicht nur nach "Exotik - oder wo ist die Kunst hinter der Form" (Franz Anton Cramer) oder dem Irritierenden und Nicht-Zugänglichen, sondern eben gerade nach der globalen Wahrnehmung und Rezeption, die es eigentlich gar nicht gibt. Jede Rezeption ist kontextspezifisch und braucht bestimmte Referenzparameter, und Cramer bezog sich demgemäss auf die Kluft zwischen Sichtbarkeit und Verständnis und das politisch-korrekte "Tabu," das er heutzutage festzustellen glaubt bei Festivalausrichtern, die einerseits besonderes Interesse an aussereuropäischen Aufführungstraditionen und ihren spezifischen ethnischen/nationalen Ausprägungen haben, andererseits jede exotistische Betrachtungsweise zu vermeiden suchen. Cramers Anspielungen auf das IN TRANSIT Festival (seit 2002) am Berliner Haus der Kulturen führte denn auch, wie erwartet, zu den kontroversesten Auseinandersetzungen während der Tagung, zu denen Johannes Odenthals Vortrag ("Politics of Translation: Die verborgenen Themen im Kulturaustausch"), ebenso wie Kerstin Everts Bericht über "Cyborg against Empire," das von dem japanischen Theaterkritiker Hidenaga Otori kuratierte Kampnagel Sommertheater-Festival LAOKOON, einluden.

Evert selbst hielt sich verdeckt und referierte über das von Otori gewählte Motto,"Cyborg against Empire," das auf die politische Theorie des Empire und der Globalisierung von Hardt/Negri anspielt aber gleichzeitig den komplexen und oft popularistisch verwendeten Begriff des Cyborgs (der ursprünglich von Donna Haraway in die feministische Debatte über Technologien/Naturwissenschaften geworfen wurde) ins Spiel bringt. Der "Ethno-Cyborg," jenes inhomogene Mischwesen, in dem die Spannungen der vom Empire forcierten Homogenität aufeinanderprallen, sei der Prototyp der hybriden Tanz- und Theaterperformer, die Otori auf dem Kampnagelfestival vorstellen will, indem er vor allem ostasiatische Aufführungen einlädt, die, laut Everts, auf politisch subversive Weise die gegenwärtigen Entwicklungen der Globaliserung reflektieren und unterlaufen, "das Empire piercen," und dabei bestimmte "Körper- und Bewegungskonzepte des Cyborg-Daseins" sichtbar machen. Um welche subversive Darstellung von Körperkonzepten oder choreographischen und dramatugischen Mitteln es sich dabei handelte, war allerdings aus den schwachen Videoausschnitten nicht erkennbar, noch konnte Evert den Eindruck verhindern, dass Otoris politisches Konzept der Anlehnung an Theoriediskurse auf künstlerisch schwachen Beinen daherkam und in sich selbst widersprüchlich wirkte. In der anschliessenden Diskussion wurde auch deutlich, dass in der Abwesenheit lokaler Kontexte und Referenzsysteme bei indischen, japanischen, balinesischen und indonesischen Tanztheateraufführungen in Hamburg die verschiedenen politischen Subtexte oder formal innovativen Elemente der Darstellung nicht sichtbar/vermittelbar sind, wobei gleichfalls der Vorwurh erhoben wurde, dass solche Tanzaufführungen in Deutschland das politische System des globalen Kapitalismus kaum unterwandern dürften. Die Frage, inwieweit eine Wirkung des Tanzes mit Kraft und Vermögen des künstlerischen Ausdrucks zusammenhängt, blieb unbeachtet im Raum stehen.

Odenthal präzisierte die Problematik dieser Vermittelbarkeit, indem der die Festival-Kulturpolitik des Berliner IN TRANSIT Laboratoriums selbstkritisch beschrieb und auf mehrere Ebenen hinwies: 1) die Ebene des kulturellen Gedächtnisses und der Wieder/Neuaneignung und Rekonstruktion von lokalen Traditionen; 2) die Ebene der unterschiedlichen kulturellen Interpretationen der Idee des Zeitgenössischen im Kontext der durch die Globalisierung erzeugten wirtschaftlichen, politischen Machtverhältnisse, und damit zusammenhängend, 3) die Ebene des Postkolonialismus, auf der die Künstler und Intellektuellen in Afrika, Asien und Lateinamerika den Begriff der Moderne (als Unterdrückungssystem) anders interpretieren und einen Aufklärungsprozess darüber in der westlichen Welt einfordern. Auf der Ebene der Produktion geht es letztlich dann darum, einzelne Werke, Choreographien, oder Körperbilder als Beiträge zum interkulturellen Dialog verstehen zu können, ohne in die "Fallen von falschverstandener Universalität, von Exotik oder Westkunst zu tappen."

Die klug ausgewählten Beispiele aus den Tanzvideo-Programmen des Dance Screen (IMZ) am vorherigen Abend hatten diese Fallen bereits verdeutlicht, z.B. bei der ethno-folkloristischen Aufbereitung einer Fernsehdokumentation über die "People of the Forest," einer Bühnenproduktion zwischen den neo-klassichen TänzerInnen des Alonzo King LINES Ballet und Nzamba Lela BaAka, einer Gruppe von MusikerInnen und TänzerInnen aus dem afrikanischen Pygmäenvolk. Das Beispiel der choreographischen Arbeit der britisch-indischen Künstlerin Shobana Jeyasingh, die den klassischen indischen Tanz, Martial Arts, und ihr eigenes modernes, hochkinetisches Bewegungsmaterial verschmelzt, öffnete eine andere Perspektive: hier handelt es sich um sekulären zeitgenössischen Tanz, den man nicht auf ethnische Merkmale, oder auf ritualisierte "Tänze der Götter" (wie im Beispiel von Katherine Dunham's "Steps of the Gods") reduzieren vermag. Jeyasingh hat sich mehrfach dazu geäussert, noch vor kurzem in einem Interview: "People talk about my work as an East-West fusion, but I prefer to think I am making work that reflects the experience of twenty-first century London." Sie lehnt es ab, "indische" Elemente aus ihrer Bewegungssprache herauslesen zu wollen, zumal wenn dies dazu führt, den Osten (Indien) mit Tradition zu verknüpfen und den Westen mit dem Zeitgenössischen.

Genau dies scheint die Argumentation Odenthals zu verdeutlichen. Es geht ihm - und hier beruft er sich auf den indischen Theoretiker/Kurator Gita Kapoor - um "Koproduktionen der Moderne" in einem Verständnis von zeitgenössischem Tanz, das sich der komplexen postkolonialen Entwicklung bewusst sei und davon ausgehe, dass die Produzenten in China, Singapore, Brasilien oder Afrika auf ihrer eigenen Modernsierung beharrten und dabei gleichzeitig im Dialog der Kulturen stünden und daran arbeiteten, sich von der politischen Instrumentalisierung durch nationale Konzepte zu befreien. Es komme heute zu einem immer stärkeren künstlerischen Austausch, einer Vernetzung von lokalen Produzenten; es würden neue Räume für Aufführungen benutzt, d.h. nicht nur die Bühne sondern auch Klubs, Galerien, Laboratorien; und es würden neue Rahmenbedingungen für den Kulturaustausch geschaffen, die es Gastkünstlern wie Koffi Kôkô in Berlin erlauben, ihren Entwurf zu realisieren. Am Runden Tisch über "Konzepte der Präsentation intra- und interkultureller Tanzprojekte" mit Evert und Gareis wies Odenthal denn auch darauf hin, dass IN TRANSIT einen Kurator aus Singapore (Ong Keng Sen) damit beauftragte, die Programmierung des Festivals vorzunehmen; des weiteren schaffe man Produktionsbedingungen, die die aussereuropäischen Gastkünstler länger an die Stadt Berlin und lokale Künstler anbinden, um neue Tools für die interkulturelle Praxis zu entwickeln und gleichsam ein Laboratorium des postkolonialen Diskurses zu fördern, das auch auf die Rezeptionshaltungen des Publikums rückwirken könne (durch öffentliche Vorträge, Diskussionen, Ausstellungen, usw). Das Festivalformat selbst soll sich verändern, denn Odenthal geht verständlicherweise davon aus, dass das Arbeitssystem wie der Ort immer eine Bedeutung mittransportieren. Gareis (Tanzquartier Wien) schlug dagegen vor, sich ganz aus des Festivalisierung herauszuhalten; an ihrem Haus sei man mehr an der alltäglichen Entwicklung, an Experimenten in alle Richtungen mit "offenen Rändern," interessiert, sowohl was die Produktionsprozesse hier und anders wo beträfe als auch die Möglichkeit, gemischte Labs durchzuführen, die Künstler aus Ost und West zusammenbrächten.

Während Evert sich mit "Cyborg against Empire" die Durchbrechung der europäischen "Deutungshoheit" verspricht und Gareis, aus der ethnologischen Feldarbeit zum Tanz kommend, die Notwendigkeit der Diskursentwicklung zur Erweiterung unserer Rezeptionsfähigkeiten konstatiert, mochte der Choreograph Micha Purucker (München) in einer der Postersessions erst einmal gar nicht von Übersetzbarkeiten des '"anderen Körpers" reden, sondern er wies darauf hin, dass in seiner mehrjährigen Arbeit mit koreanischen Tänzern in Seoul kaum mit der Vermittlung von Begrifflichkeiten verhandelt wurde, sondern dass es gelang, Choreographien zu schaffen, ohne sich verbal zu "verstehen" bzw. die unterschiedlichen regionalen und kulturellen Wahrnehmungen des eigenen Körpers beschreiben zu können. In seiner Arbeit mit der 2001 in Seoul gegründeten LDP Kompanie (laboratorymuyongtan) gehe es vor allem um Bereiche des Vorsprachlichen, der Erinnerung, des körperlich-kinetischen und synästhetischen Empfindens und der Erschliessung entsprechender Resonanzräume. Die letzte Produktion hiess "We Believe in Miracles…" und vertiefte die praktische Suche nach anderen Körperbildern und Bewgungsartikulationen.

Purucker nahm nicht an den öffentlichen Diskussionen der Tagung teil, wie denn auch abschliessend mehrfach bemängelt wurde, dass an solchen Forschungskongressen zu wenig Praktiker (gerade von anders wo) teilnehmen und von den konkreteren Problemen einer Probenarbeit oder eines interaktiven Schaffensprozesses mit Tänzern aus verschiedenen Kulturkreisen berichten. Die zwei kurzen Abendworkshops von Ursula Galatea Ritter ("Bodypuzzles in Hebräisch") und Eleanora Allerdings ("Open Doors to Anywhere - Über Nomadentum und tragbare Heimaten") konnten darüber nicht hinwegtäuschen, dass gerade die praktische Perspektive, und vor allem die methodischen Ansätze von Künstlern aus dem nicht-deutschsprachigen, nichteuropäischen Raum, vollkommen fehlten. Die europäische "Deutungshoheit" wurde also kaum angetastet, zumal fast alle theoretischen Referenzsysteme, die in der Tagung eingebracht wurden, auf deutschen, französischen und angelsächsischen Texten und Notationen (Laban) beruhten (z.B. auch Barbara Stuibers Vortrag "Der orientalische Tanz als Bewegungssystem nach der Lehre Rudolf v. Labans"). Auch Gabriele Brandstetter (Berlin) behandelte in ihrem schwungvollen Vortrag über neue Pathosformeln im zeitgenössischen Tanz ("Refiguration des Pathos") fast ausschliesslich die vermeintlichen (zitierten?) Intensitäten des Ausdrucks im konzeptuellen, minimalistischen und selbstreflexiven Tanz der hiesigen Szene (Xavier LeRoy, Jerôme Bel, Meg Stuart, Sascha Waltz, Thomas Lehmann, Astrid Endruweit, usw), ohne näher auf den Gestus der Emphase in nichteuropäischen Kontexten (z.B. Lateinamerika, was sich vielleicht angeboten hätte) einzugehen.

Die Rolle des Zitats beschäftigte auch meinen eigenen Beitrag ("Der transmediale Tanz: Tanz-Technologien im Transfer"), wobei ich allerdings vom Tanz als Medienkunst sprach und technische Produktionszusammenhänge (Interaktivität, Sampling, Digitalisierung, Telepräsenz) in den Vordergrund stellte. Ich gab zu bedenken, dass interessanterweise die Problematik der kulturellen Differenz, der kulturellen Hybridität, und der Dekolonialisierung - das zentrale Thema dieses Kongresses - kaum wenn überhaupt zur Sprache kommt in der Arbeit mit neuen Medien. Die Überschreitung der "lokalen" kulturellen Differenz ist Voraussetzung des Digitalen: Es geht um Formen des
"Interface-Designs," um eine Praxis, die Schnittpunkte von kulturellen Formen, charakterisiert durch den heterogenen Einsatz von unterschiedlichen Medien und Tanz-theatersprachen, ausstellt und "prozessiert," d.h. nicht bestimmte heterogene Tanztechniken in einen Tanzkörper zu verbinden und anzueignen vorgibt, sondern in einem immer von neuem zu konstituierenden Akt der Übersetzung oder des "sampling"
zitiert.

Den "Tänzerkörper" als kulturelles und technisches Konstrukt zu behandeln läge eigentlich dem Thema des Kongresses nahe, und mann müsste, wie auch Ploebst vorschlug in seinem zweiten Vortrag über Choreographen und Filmemacher aus Österreich, auf einen veränderten Material-, Realitäts- und Subjektbegriff, und auf eine Infragestellung der Grenzen des Theaters selbst hinzielen. Ploebst machte den wunderbaren Vorschlag (der nicht in der Diskussion aufgegriffen wurde), Tanz von Choreographie zu trennen, um sich von der althergebrachten Vorstellung zu lösen, beide wären an ein Medium und eine bestimmte Prozesshaftigkeit gebunden. Im Verweis auf Willi Dorner, Daniel Aschwanden, Boris Chamatz, Peter Kubelka und Jack Hauser machte Ploebst deutlich, dass "Tanz" auch vom Film herkommen kann oder zum Film hingeht, zur "Televisualität des Körpers," und dass die "Organisation von Dingen im Raum," wie es William Forsythe nannte, eine Kulturtechnik ist, die nicht unbedingt auf körperliche Präsenz oder die in der Kulturanthropologie und Tanzkritik untersuchten Phänomenologien zurückfällt. Der ganze theoretische Ballast der Tagung würde wohl eher Franz Anton Cramer recht geben, der hermeneutisch und phänomenologisch argumentierte, wir hätten Angst vor dem Unvertrauten, vor dem Nicht-Verstehen, obwohl das aufgeführte "Fremde" immer auch irgendwie vertraut und zugänglich wirke. Bei den hitzigen Diskussionen um IN TRANSIT und CYBORG AGAINST EMPIRE ging es aber nicht um angemessene Aneignungsprozesse des Unvertrauten oder Exotischen, sondern um die kulturpolitische Anmassung, dass die europäischen Laboratorien den Raum böten, eine transkulturelle Entwicklungsarbeit zu leisten, von denen die Entwicklungsländer (der "driten Welt") profitieren.

Susanne Foellmer (Berlin) sprach von einem solchen Labor ("Lokale Körper, globaler Tanz? Ein Versuch der Globalisierung im Tanz") mit Blick auf die jüngste Produktion der Rubato Kompanie, "Duty Free," in der chinesische, estnische, kanadische und deutsche TänzerInnen aufeinander trafen und das lokal-spezifische "Wahrnehmen im Detail" probten. Foellmer vollzieht den Probenprozess nach als Verfahrensweise einer "Haut" - und Oberflächenforschung: die TänzerInnen entwickeln Bewegungsmaterial aus den kleinsten Impulsen, Eigenheiten, Beschaffenheiten eines Bewegungsmodus, um dann jeweils die Phrasen nach ihren Strukturen und der Möglichkeit individuellen Ausdrucks (was ist das "chinesische" bei dieser Bewegung?) abzufragen. Es stellt sich heraus, dass auch das kleinste "Lokale" so nicht identifizierbar scheint, und die TänzerInnen entwickeln dann ihr "System," indem sie verschiedene Gesten aus dem "ursprünglichen" Kontext herauslösen, verschieben, weiterentwickeln, sich dabei fortlaufend abwechselnd. Es entsteht ein Stück mit drei Duetten. So einfach geht das, und Foellmer zeigt Beispiele auf Video, an denen man sehen kann, wie "kulturelle Wahrnehmungen," d.h. Vorurteile, entgleiten und man mehr darauf zu achten scheint, von welchem Punkt an wir eine Bewegungsfolge wieder-erkennen und sie uns konventionalisierbar vorkommt. In dieser Herangehensweise, die wiederum vom westlichen Dekonstruktivismus geprägt ist, wird die Frage nach dem "wirklich Eigenen" natürlich uninteressant. Der lokale Körper ist auch nur eine Fiktion, und ohnehin würde ich Erklärungen für die Wirkung eines Tanzes oder der menschlichen Kommunikation nicht bei biologischen, psychologischen, oder sozialen Ursachen suchen, sondern bei der Art und Weise, wie die Kommunikation Unwahrscheinliches herstellt und konventioniert. Über diese Wirkungen des Tanzes und der neuen multimedialen Choreographien nachzudenken gab der Kongress reichlich Anregung.